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9783895004193

Pfluger-Schindlbeck, Ingrid

Verwandtschaft, Religion und Geschlecht im Aserbaidschan

2005
17,0 x 24,0 cm, 220 S., Gebunden
69,00 €

ISBN: 9783895004193
Inhaltsverzeichnis
Probekapitel

Kurze Beschreibung

Das Buch beruht auf einer 15-monatigen ethnologischen Feldforschung in einem aserbaid-schanischen Dorf und behandelt genderspezifische Ideologeme innerhalb von Verwandtschaft und Religion. Gezeigt wird, dass der einheimischen Kategorisierung von Verwandten in „Knochen“ und „Milch“ das Geschwisterpaar von Bruder und Schwester zugrundeliegt und dass sich die Milchverwandtschaft unabhängig zu agnatischen Gruppengrenzen verhält und sich auf den allgemeinen Lebensprozess bezieht. Es ist dieser Topos des Lebensprozesses, der in der überwiegend weiblichen Praxis der (para)religiösen Phänomene von Traum, Wahrsa-gung, Wallfahrt sowie der lebenszyklischen Rituale in Spannung zu „orthodoxen“ islamischen Vorstellungen konstituiert wird.

Ausführliche Beschreibung

Dieses Buch basiert auf mehreren, zwischen 1995 und 1999 durchgeführten Feldforschungen im ländlichen Aserbaidschan und behandelt genderspezifische Ideologeme innerhalb der beiden untersuchten Bereiche von Verwandtschaft und Religion. Im ländlichen Aserbaidschan beruhen patrilineare Abstammungkategorien auf der Idee der Knochenverwandtschaft. Auf dieser Grundlage können sich agnatische Solidargruppen bilden, die aber weder eine permanente soziale Struktur ausbilden, noch alle Individuen umfassen. Patrilineare Abstammungskategorien sind somit nicht gesellschaftliche Struktur, sondern lediglich Option, die dann gewählt wird, wenn einzelne, wirtschaftlich erfolgreiche Mitglieder über die Verflechtung von primär agnatischer Verwandtschaft mit staatlicher Bürokratie materielle Vorteile erzielen können. Nur dann werden Solidargruppen gebildet, die in ihrer Abhängigkeit vom Erfolg Einzelner in ihrer Existenz sehr fragil sind.
Werden Agnaten als Knochenverwandtschaft konzipiert, so gilt die uterine Verwandtschaft als Milchverwandtschaft. Knochenverwandtschaft bezieht sich primär auf Männer, schafft patrilineare Kontinuität und objektiviert in der Heiratsallianz die „Milch“ bzw. die Frau als Fremde. Dagegen bezieht sich die Milchverwandtschaft primär auf Frauen, ist unabhängig von agnatischen Grenzziehungen und betont mit den zentralen Konzepten von Mutterschaft und Geburt den allgemeinen Lebensprozess schlechthin. „Knochen“ und „Milch“ stehen aber auch für die geschwisterliche Einheit, für Bruder und Schwester und stellen den Wert der Konsanguinität vor den der Affinität.
Dem Topos des allgemeinen Lebensprozesses begegnen wir in der frauenspezifischen religiösen Praxis wieder. In den (para) religiösen Phänomenen von Traum, Wahrsagung, Wallfahrt und in lebenszyklischen Ritualen wird die Bedeutung des Lebensprozesses in Spannung zu den sich im Rahmen der Re-Islamisierung erst etablierenden „orthodoxen“ islamischen Vorstellungen konstituiert. So formulieren die lebenszyklischen Rituale das Verhältnis des weiblichen Körpers zum islamischen Reinheitsgebot unterschiedlich von der Auffassung des so genannten orthodoxen Islam. Weibliche Unreinheit nach Hochzeit und Geburt wird nicht mehr negativ, als Teil des Ausschlussprozesses von Frauen definiert, sondern Fruchtbarkeit und Unreinheit bedingen sich gegenseitig und sind aneinander gebunden.
Vergleichbare Arbeiten zu den ehemaligen islamischen Sowjetrepubliken liegen bislang nicht vor. Mit der Präsentation grundsätzlich neuer ethnographischer Daten liefert das Buch nicht nur einen wesentlichen Beitrag zu den auf Verwandtschaft und Religion bezogenen kognitiven Ideensystemen der Bewohner Aserbaidschans; darüber hinaus werden neue Ergebnisse für die ethnologische Verwandtschaftstheorie, zu Fragen von Gender sowie neue Erkenntnisse zu Komplexen wie Fehde, Frauen- und Männersprache und Körperlichkeit vorgestellt.

Rezensionen

„Auch wenn sich einzelne der hier aufgestellten Hypothesen sicherlich weiteren anthropologischen Studien stellen werden müssen, so sollten sich Islamwissenschaftler, die sich mit Fragen von Islam und gender im postsowjetischen Aserbaidschan beschäftigen, in jedem Fall mit den Beobachtungen von Pfluger-Schindlbeck künftig auseinandersetzen. Bedenkt man, dass die aserbaidschanische Gesellschaft in den Kulturwissenschaften meist als eine an der Schnittstelle zwischen iranischen, türkischen, russisch/sowjetischen sowie regionalen kaukasischen Einflüssen gelegene Übergangsregion wahrgenommen wird, lassen die vorliegenden Ausführungen den Wunsch nach Vergleichsstudien etwa zu kosmologischen Vorstellungen bei den nichtmuslimischen Nachbarn im Südkaukasus aufkommen, um z.B. besser das spezifisch „islamische“ am aserbaidschanischen Fall herauszuarbeiten. Ebenso wäre ein Vergleich der Bereiche Geschlecht, Verwandtschaft, Religion mit ländlichen Gebieten im angrenzenden Iran bzw. der Türkei vorstellbar, um die spezifisch „sowjetische“ Dimension herauszufiltern. In jedem Fall wurde mit der hier besprochenen Arbeit eine wichtige Detailstudie vorgelegt, die es ermöglicht, solche Vergleiche künftig erst anzustellen.“

In: Orientalistische Literaturzeitung. 102 (2007) 1. Sp. 108-112.

Autoreninfo

Ingrid Pfluger-Schindlbeck
Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, Promotion in Ethnologie 1987, Lehrbeauftragte in Bremen, Berlin und Tübingen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin, Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, seit 2000 Leiterin des Fachreferates Islamischer Orient des Ethnologischen Museums Berlin, Habilitation im Fach Ethnologie am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin 2003. Feldforschungen in der Türkei und Aserbaidschan, Forschungsschwerpunkte: Vorderer Orient, Mittelasien, Geschlechterforschung, Verwandtschafts- und Religionsethnologie.

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